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Kalevala

Einiges über das finnische Nationalepos Kalevala und seine Entstehung

Als Ellas Lönnrot, der finnische Arzt. Volkskundler und Philologe, sich Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in die spärlich bewohnten, weiten Wälder Ostfinnlands aufmachte, um Volksdichtung zu sammeln, hatte er wahrlich keine Vorstellung von der zukünftigen Reichweite seines Tuns. Aus diesem von ihm gesammelten Material sollte einige Jahre später das Kalevala, das Nationalepos der Finnen entstehen, das heute neben Epen wie Nibelungenlied oder Ilias und Odyssee, seinen Platz in der Weltliteratur behauptet. Etwas von der Eigenart des Kalevala, seiner großen Schlichtheit. Menschlichkeit und Naturnähe finden wir schon in der Art wieder, mit der Lönnrot diese Lieder sammelte: Barfuß und im Rupfenhemd, Schreibzeug, Pfeife und Flöte im Rucksack verstaut, wanderte er in dem hellen finnischen Sommer durch die weglosen Wälder.

Hörte er einen Hirten auf dem Hörn aus Birkenrinde spielen, antwortete Lönnrot mit seiner Flöte - schon stöberten ihn die Hunde auf, und abends wurde er mit auf den Hof genommen. Von den Bejahrten dort ließ er sich dann die uralten, von Generation zu Generation nur im Gedächtnis übertragenen Lieder vorsingen, die er sorgfältig aufschrieb.

Auf diese Weise trug er eine Fülle von Material zusammen, aus dem er plötzlich intuitiv die Konturen eines großen Urepos auftauchen sah - im Jahre 1835 erschien dann der erste Teil des Kalevala. Auf dem Titelblatt fehlte der Name des Sammlers und Zusammenstellers: Elias Lönnrot betrachtete sich selbst nur als Vermittler, ein Sänger unter Sängern, durch den das finnische Volk der Welt seine große Dichtung schenkte. Das Kalevala wird nicht, im Gegensatz zu einer Dichtung wie dem Nibelungenlied, vom Waffengeklirr und von blutigen Kämpfen geprägt - es ist menschlicher. Immer handelt es sich um Einzelschicksale, die von dem Sänger lose miteinander verknüpft werden.

Das Kalevala ist in der Abgeschiedenheit der finnischen Wälder und Seen entstanden, aus einer bäuerlichen Kultur gewachsen, und das spiegelt sich in den Gesängen wieder. Die eigentliche Waffe ist nicht das Schwert, sondern das magische Wort. Durch das Wort entstehen Wälder, Tiere, Sterne - durch das Wort macht sich der Sänger die nur vage dargestellten Götter des Wassers, der Luft und der Erde Untertan.

Das Epische und das Magische sind im Kalevala unzertrennlich miteinander verflochten. Die Helden haben menschliche Schwächen, und sie werden in unheldenhaften Situationen mit mildem Humor geschildert:

"Dort nun weinet Väinämöinen,
weinet er und brummt so grimmig.
Selbst der Bart ist bös zerraufet,
wild zerzaust das wilde Stirnhaar..."

Das, was ein Mitteleuropäer sich unter einem Heldenepos vorstellt, ist das Kalevala also nicht.

Dem fremden Leser öffnet es sich wohl erst dann, wenn dieser sich die Mühe macht, mit dem Land, in dem es entstanden, und mit dessen Menschen vertraut zu werden. Nur von der finnischen Landschaft her und aus dem Charakter ihrer Menschen ist das Kalevala treu zu deuten, auch in der bildenden Kunst.

Erich Grün hat diesen Schlüssel zu dem Werk gefunden.

Leena Timpe-Leinonen

Die Symbolik des Kalevala

Dem Epos Kalevala liegt der Ursprungsmythos des finnischen Volkes und seines Landes zugrunde: Von der Schöpfung aus der Wassermutter bis hin zur Weihe des ersten Königs von Karelien durch den alten Sänger Väinämöinen, der selbst schon am Ursprung der Schöpfung entstand. Er, der von der Schöpfung singt, sie bewußt macht durch Sprache und Lied, steht am Anfang. Dieser Gedanke berührt sich auch mit dem Schöpfungsbericht der Bibel, einer Schöpfung aus dem Wort. Der Dichtersänger verwaltet das Schöpfungswort, aktualisiert es in jeder neuen Generation. Der ,,alte wahrhafte Väinämöinen" ist denn auch eine Schlüsselfigur des Epos: der Maler Erich Grün gestaltet ihn, läßt ihn herauswachsen aus Wasserwogen, aus Linien, die eben noch Wellenkämme und Wasserpflanzen, Fischschwänze und Schuppen bildeten. Aus der Wassermutter - symbolisch: dem kollektiven Unbewußten der Menschheit -ist der Zaubersänger erwachsen, der die ursprünglichen Ereignisse bewußt und nennbar macht durch sein Wort. Sonst lägen sie im dunkeln.

Als der Aar ihn auf die Flügel nimmt (9) - bei Erich Grün wird es zum stürmisch inspirierten Dahinfahren auf einem Federgefährt - ereignet sich ein Höhenflug, eine Bewußtwerdung, nachdem es zuerst noch hieß:

Väinämöinen alt und wahrhaft trieb dahin auf tiefen Wassern (8).

Im Verlauf dieser Bewußtseinsentwicklung tauchen nun, damals wie heute, die großen archetypischen Symbole, um mit dem Psychologen G. G. Jung zu sprechen, in der Seele auf: In Louhi, der "Alten Nordlands", die Symbolgestalt der "Großen Mutter"; wie in der "schönen Maid des Nordlands" die weibliche Seelenfigur im Manne, die "Anima" erscheint. Eines der zauberhaftesten Bilder Grüns ist für mich jenes, das das visionäre Erscheinen der schönen Maid aus dem Licht des Regenbogens zeigt (12). Dem mit kräftigen schwarzen Linien gestalteten Kopf Väinämöinens ist, durch einen zarten Vogel vermittelt, das aus dem Licht tauchende, sich aus Licht verdichtende Gesicht gegenübergestellt. Dieses Imago mag aus dem Unbewußten des Künstlers im Prozeß des Malens selbst entstanden sein. Auch die Begegnung des verlassenen Kullervo mit der "Waldfrau mit dem blauen Umhang" (45) erscheint wie ursprünglich der vom Mythos betroffenen und bewegten Psyche des Malers entsprungen.

Mythos spricht nicht von Vergangenem, sondern von allezeit Wiederkehrendem: Er spricht in Bildern, die unsere moderne Psyche nicht weniger zu packen und zu ergreifen vermögen, wie die der früheren Generationen - davon zeugen die Bilder Erich Grüns - er spricht vom Drama des Menschen und seiner Bewußtwerdung überhaupt.

Uraltes Bild für Bewußtwerdung ist der Aufgang von Mond und Sonne, das Aufscheinen des Lichts: ein zentrales Motiv im Kalevala. In vielen Kulturen tauchen für diesen elementaren und universalen Entwicklungsprozeß des Menschen parallele Symbole auf: "Die Kuh, auf dem Kopf die Sonnenscheibe" (15) kommt zum Beispiel auch im altägyptischen Mythos in Gestalt der Hathor vor. Vom Fluß des Totenlandes wissen auch die Griechen zu berichten. Von eindringlicher Wirkung ist das Bild (24), auf dem vor tiefschwarzem Grund die bleiche Todesmutter in violettem Kleid mit dem Boot, dem Unterweltgefährt, dem angstvoll zurückweichenden Väinämöinen gegenüber tritt.

Eigene Schicksals- und Todesbegegnung des Malers wird hier fühlbar und teilt sich dem Betrachter mit.

Wie "Lemminkäinens alte Mutter" die Teile ihres zerstückelten Sohnes im Fluß zusammensucht (22), so sammelt im altägyptischen Mythos Isis die Teile des zerstückelten Osiris: ein Mythos des wieder Ganzwerdens, der von der Auferstehung spricht.

Nur eine mißachtete, dunkle, angstvoll ausgesparte Macht vermag es, diese Tötung, diese Zerstückelung zu bewirken: Hier verkörpert sie sich in dem "bösen Herdenhirten" (19), wie im Märchen in der bösen Fee oder in uns selbst in dem, was wir verdrängen. Von magischer Mächtigkeit ist Grüns Gestalt des "schwarzen Hüters", der zwei Drittel des Blattes auf der linken Seite füllt, der symbolischen Seite des kollektiven Unbewußten. Dem Gegenüber wagen sich die lammfrommen weißen Schafe nur zu einem Drittel in die rechte Bildhälfte hinein. Kalevala kennenzulernen, bedeutet nicht nur, einen uralten Stoff kennenzulernen: sondern sich ansprechen und anrühren zu lassen von Inhalten, die in den Tiefen der eigenen Seele einen Widerhall wecken. Erich Grüns Bilder-Zyklus zum Kalevala ist Ausdruck eines von diesem Schicksalsmythos Betroffenen, der ihn zugleich adäquat zu gestalten vermag. Der Maler hat seinem Unbewußten schöpferisch Raum gegeben, was wir gerade an seiner malerischen Technik, Formen und Gestalten aus fließender Farbe herauszusehen, herauszumodellieren, miterleben können. Dem fließenden Bilderstrom aus dem kollektiven Unbewußten verdankt auch das Kalevala seine Entstehung. Erich Grüns Bilder zu betrachten, mag auch in uns diesen Strom ins Fließen zu bringen.

Ingrid Riedel

Erich Grün

Finnland ist in den letzten Jahren das bevorzugte Reiseland des Malers Erich Grün geworden. Zwar kennt er auch die übrigen Länder Europas, und in Nord- und Südafrika hat er sich ebenfalls aufgehalten, aber nach Skandinavien, vor allem zu den finnischen Seen, Wäldern und Hügeln zieht es ihn immer wieder, weil diese Landschaft sehr viel Ähnlichkeit mit seiner baltischen Heimat Estland besitzt. Hier empfängt er wesentliche Anregungen für seine künstlerische Arbeit; die herbe Schönheit der großen Natur des Nordens mit ihrer Einsamkeit und Weite findet ihren Widerhall in seiner Phantasie. Die Eltern, der Vater Baltendeutscher, die Mutter in Petersburg geboren, lebten in der ehemaligen Hansestadt Dorpat und wurden im ersten Weltkrieg in ein sibirisches Internierungslager in Psyschminskoje transportiert. Hier kam Erich Grün am 20. Dezember 1915 zur Welt. Nach dem Ausbruch der russischen Revolution gelangte die Familie nach Deutschland. In Berlin besuchte der Sohn die Schule, die Ferien aber verbrachte er immer auf der Insel Ösel vor der Rigaer Bucht, so daß ihm die baltische Heimat von früh an vertraut wurde. In Berlin begann Grün, für den es schon als Kind keinen Zweifel gab, daß er Maler werden wollte, 1932 seine Ausbildung bei Moritz Melzer an der hochangesehenen Reimann-Schule, einem privaten Institut, das später von den Nationalsozialisten geschlossen wurde. Seinen Wehrdienst leistete Grün bei der Polizei ab, wurde von dort zur neugegründeten Luftwaffe überstellt, und statt des Malerkittels mußte er Uniform tragen - insgesamt dreizehn Jahre lang. Er machte den Polen- und Rußlandfeldzug mit, kam zur Fallschirmtruppe, geriet in Gefangenschaft und floh auf abenteuerliche Weise von der Insel Malta nach Deutschland. Hier aber stand er allein, denn Frau und Kinder waren Opfer des Bombenkrieges geworden.

An der Werkkunstschule Hannover schließlich, der heutigen Fachhochschule, konnte er sein künstlerisches Studium wieder aufnehmen; Erich Rhein, der gern experimentierte, und Adolf Vogel, der seine Bilder klar und fest aufbaute wie Karl Hofer, wurden seine Lehrer. Ein Stipendium der Firma Bahlsen in Hannover und ein Preis der Hannoverschen Presse förderten seine künstlerische Entwicklung ebenso wie Aufenthalte als Gast der Akademie Athen und der Sommerakademie in Delphi und auf der Insel Hydra. Studien in Island und Grönland brachten weitere Impulse für seine Arbeit. Zehn Jahre lang war er dann selber an seiner einstigen Ausbildungsstätte, der Werkkunstschule Hannover, als Lehrer tätig, anschließend wurde er Kunsterzieher an der hannoverschen Bismarck-Schule. Die Lehrtätigkeit bereitete ihm Freude, auch weil er ihr letztlich seine Unabhängigkeit verdankte. Der Beruf bewahrte ihn davor, künstlerisch arbeiten zu müssen, nur um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Gebundenheit schenkte ihm Muße und Freiheit für seine Malerei. Und Erich Grün verstand es, sie zu nutzen. Seine Ausstellungen im In- und Ausland geben darüber Auskunft.

Nach dem Erreichen der Altersgrenze kann er sich nun ganz auf seine Arbeit als Maler und Graphiker konzentrieren. Mit welchem Erfolg das geschieht, läßt sich an zwei jüngst entstandenen umfangreichen Aquarell-Folgen ablesen, den 60 Bildern zu dem finnischen Nationalepos Kalevala (1980) und den 99 Illustrationen zum Alten Testament (1981). Beide wurden in erstaunlich kurzer Zeit vollendet, die Aquarelle zur Kalevala in einem, die zur Bibel in drei Monaten - ein Zeichen dafür, wie intensiv der Künstler sich mit der Thematik beschäftigt hatte, bevor er den ersten Pinselstrich tat; die Ausführung war im Grunde nichts anderes als das Übertragen der inneren Gesichte, der Visionen auf das Papier. Die Fülle der unterschiedlichsten Erfahrungen, die Grün während der ersten Jahrzehnte seines an ungewöhnlichen Wendungen reichen Lebens machen mußte, seine für die Sprache der Natur geschärften Sinne, die Liebe zu Finnland und die Kenntnis seiner Menschen und seiner Geschichte bildeten die rechte Grundlage, ein Unternehmen wie die Illustration des Kalevala auf sich zu nehmen. Das während der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts veröffentlichte Epos ist das Ergebnis der Sammlertätigkeit des Arztes Elias Lönnrot, der heidnische und christliche Lieder und Sprüche in der Absicht zusammentrug, die Frühzeit Finnlands möglichst umfassend darzustellen. Die Entstehung der Welt und das heroische Zeitalter werden aus finnischer Überlieferung geschildert, Mythos und Geschichte durchdringen einander, finden Ausdruck in sagenhaften Gestalten wie dem zaubermächtigen Sänger Väinämöinen, der aus dem Wasser geboren wird. Erich Grüns Imaginationskraft entzündet sich an diesem elementaren Wesen ebenso wie an anderen durch die Weisheit des Mythos beglaubigten Figuren, er folgt mit dem ihm eigenen dynamischen Temperament dem Gang des Geschehens, läßt es wie einen Strom von Bildern, die teils über die Grenzen der Gegenständlichkeit hinaus zum Abstrakten vordringen, vor dem Betrachter vorüberziehen. Aus dem Gewoge leuchtender Farben, die manchmal an Nolde, Chagall oder Manessier erinnern, wachsen böse Geister, Menschen und Tiere hervor, Traumgestalten, die, nur für kurze Zeit greifbar, vorüberschweben, Sinnbilder der sich ständig wandelnden und doch im Grunde gleichbleibenden Schöpfung. Der Maler läßt die Aquarellfarben kühn ineinanderfließen, wobei er kräftige Kontraste liebt; mit Aquarellstiften verstärkt er, soweit nötig, die Zeichnung, ohne jedoch die einzelnen Szenen so zu verfestigen, daß dadurch das Überwirkliche und die Sinnbildhaftigkeit des Dargestellten gemindert würden. In seinen Kalevala-Aquarellen hat Erich Grün die Gewalt und Schönheit des Mythos auf zeitgemäße Weise sichtbar gemacht.

Rudolf Lange

Zufälliges Bild

(ohne Titel)
Nr. 4807
undatiert
Filzstift
14,7 x 21 (Rahmen: o.PP)


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